Bullying
Kim Posse
Eine deiner Figuren erzählt, wie sie sich aus dem erniedrigenden Kreislauf des Gemobbt-Werdens befreit hat.
Nachdenklich blickte ich aus dem Fenster. Was Dina und Vera redeten, bekam ich gar nicht richtig mit.
„Kim, was ist denn los? Irgendwas bedrückt dich doch“, erkannte Vera genau richtig. Sie hatte ein so gutes Gespür, dass es fast schon unheimlich war.
„Nein, alles gut“, wehrte ich direkt ab. Über dieses Thema sprach ich nicht gerne – seit ich in Deutschland lebte, hatte ich es noch niemandem anvertraut.
„Bist du dir sicher?“ Vera gab nicht nach. Inzwischen kannte sie mich zu gut.
„Nein, ich … wurde gemoppt“, brachte ich es nur mit Mühe über die Lippen.
„Was, gemoppt?“ Entgeistert blickte mich Vera an.
Traurig nickte ich. Die Erinnerungen an meine Kindheit prasselten wie ein schmerzhafter Regenschauer auf mich ein. Es fiel mir bis heute schwer, darüber zu sprechen, doch mir war klar, dass es wirklich wichtig war, sich an andere zu wenden.
„Ich zwinge dich natürlich nicht, etwas zu erzählen“, meinte Vera einfühlsam, „sag nur das, was du auch wirklich willst und kannst.“
„Danke“, murmelte ich, dann rückte ich mit der gesamten Geschichte heraus: „Schon als Kind war ich ein Freak. Ich war die mit den komischen Haaren. Als Kleinkind hatte ich es nicht begriffen, aber als ich dann auch in der Grundschule nicht wirklich Freunde fand, verstand ich langsam, dass nicht die anderen alle komisch waren – nur ich. Keiner wollte etwas mit mir zu tun haben. Kinder können so richtig fies sein. Wenn jemand etwas zu mir sagte, war das häufig nur irgendeine Gemeinheit, um mich wieder zu demütigen. ,Kim Posse? Das klingt ja, als würdest du etwas können – dabei kannst du doch gar nichts!` Meine Lehrerin bekam nichts davon mit. Es geschah im Verborgenen. So unauffällig, dass es kein anderer mitbekam und dennoch so auffällig, dass ich jede Sticheleien sofort bemerkte.“
„Da ist für Mobbing leider normal“, wusste Vera. „Häufig kann es über Wochen, ja Monate hinweg unentdeckt bleiben, wenn dich das Opfer nicht traut, etwas zu sagen.“
„Da gibt es eine wirklich gute Vorstellung, die wir in der Grundschule einmal gelernt hatten“, erinnerte sich Dina. „Stelle dir eine Mauer mit 1000 Steinen vor. Jedem – und vor allem den Mobbern – fällt genau dieser eine Stein auf, der nicht perfekt ist. Dabei gibt es noch 999 andere Steine, die perfekt sind. Wieso sehen wir diese nicht?“
„Ein wirklich tolles Bild“, lobte Vera sie.
„Ihr habt recht. Ich falle voll in das Klischee-Muster. Meinen Eltern verriet ich lange nichts davon. Ich weiß nicht, ob aus Angst oder Peinlichkeit.“
„Oh nein, Kim, du arme Maus“, sagte Vera traurig und streichelte mir über den Rücken, was mir ein Schluchzen entlockte.
„Anfangs dachte ich einfach, es sei ärgern, doch von Jahr zu Jahr wurde es immer schlimmer. Die anderen Kinder hatten gesehen, dass sich meine Haare bewegten, obwohl ich sie immer unter einer Mütze zu verbergen versuchte. Hat nicht immer ganz geklappt. Da war es klar, dass ich als Opfer ausgewählt wurde …“
„Manchmal kann man nur schwer unterscheiden, ob es noch ärgern oder schon mobben ist.“ Vera kratzte sich an der Stirn. „Mobbing folgt aber klaren Verhaltensmustern und hat viele systematische, sich wiederholende Handlungen, was bei ärgern nicht der Fall ist. Dabei muss nicht immer körperliche Gewalt ausgeübt werden. Auch psychisch oder nonverbal kann man mobben. Ungleiche Machtverhältnisse und unterschiedliche Einflussmöglichkeiten auf eine Situation. Meist sind die Täter sogar die eigentlichen Opfer, die sich wahllos das schwachste Glied der Kette herauspicken, um sich selbst besser zu fühlen. Da müsste einem theoretisch der Täter sogar leidtun, der selbst nicht groß genug ist, um sich allein zu behaupten. Wer jemanden niedermachen muss, um sich gut zu fühlen, ist einfach nur armselig. Er giert geradezu nach Aufmerksamkeit der anderen.“
„Wenn es nicht gerade übers Internet als Cybermobbing stattfindet, was wirklich feige ist. Da kann man anonym bleiben und einfach andere in den Dreck ziehen!“, fauchte Dina.
„Das Schlimme ist ja, dass Mobbing wirklich überall stattfinden kann: in der Schule, auf der Arbeit, in Vereinen und Jugendgruppen und am vielen Orten mehr.“ Dina schüttelte den Kopf. „Einfach schlimm.“
„Aber bei uns bist du sicher, Kim. Wir hören dir gerne zu, helfen dir und unterstützen dich immer.“ Vera lächelte mich an.
„Ich bin euch so dankbar“, schluchzte ich. „Danke, dass ich euch habe. Wisst ihr, als es zu schlimm wurde, habe ich mein Heimatland verlassen. Rochester ist so schön, aber nicht mit diesen Menschen. Nicht einmal die Lehrer halfen mir. Da blieb mir nur noch die Flucht als Ausweg. Als ich dann dich kennenlernte, Vera, und wir Brieffreundinnen wurden, hatte ich nicht mehr geglaubt, je von jemandem verstanden zu werden. Aber ihr seid so anders und einfach toll.“
„Und das sagst du, obwohl ich ab und zu auch echt fies zu dir sein kann“, bemerkte Dina mir Schrecken. „Mir war nicht klar, welche Spuren es bei dir hinterlassen hat und welche Vergangenheit du hast. Oje, Kim, das tut mir so leid.“
„Nein, bitte nicht. Dina, entschuldige dich nicht.“ Ich umarmte sie. „Ich hab euch lieb und ihr könnt mir nie das antun, was ich in Rochester erlebt habe.“ Dina erwiderte meine Umarmung.
„Wir halten zusammen, wir sind ein super Team!“, rief Vera und stieg in die Umarmung mit ein.
„Das sind wir!“, stimmte ich zu und mir lief vor Freude eine Träne über die Wänden. Erleichtert lachte ich auf. „Hach, das tat wirklich gut, mit euch darüber zu sprechen.“
„Du kannst immer über alles mit uns sprechen“, bot Vera an.
„Jetzt hör doch auf, so lieb zu sein. Ich heule gleich noch komplett“, schniefte ich.
„Okay, Themenwechsel: Laufen wir eine Runde mit Luna?“, schlug Dina vor.
„Ja, ein Spaziergang würde mir jetzt guttun.“ Mit einem Ruck stand ich auf und eilte in den Gang. „Kommt“, rief ich ungeduldig, „wo bleibt ihr denn?“
„Wir kommen ja“, lachten meine Freundinnen auf. Dina nahm Luna an die Leine, dann öffnete sie die Tür und ich spürte, wie eine große Last von meinen Schultern fiel.