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Die Hexe im Müllsack

Vera Sturm

Walpurgisnacht – deine Figur mit den größten Sicherheitsbedenken gerät mitten in die Feierlichkeiten hinein.

„Und wo genau willst du hin?“, wollte ich wissen, als mir Kim einen Flyer im grellbunten Farben unter die Nase hob.

„Auf eine Walpurgisnacht.“ Kim grinste mich breit an. Sie schien sich extrem darauf zu freuen und war überglücklich. „Da wollte ich unbedingt hin.“

„Kim, aber dir ist schon klar, dass es gefährlich sein kann. Solche Walpurgisnächte sind nicht ganz ohne. Häufig geraten sie mit dem Gesetz in Konflikt“, meinte ich. In meiner Laufbahn als Reporterin hatte ich so manchen Artikel über solche aus den Fugen geratenen Feierlichkeiten gelesen. Mir waren sie einfach nicht sicher genug. Zu viel konnte passieren. Außerdem war es nicht selten, dass Rauschmittel und andere Drogen zum Einsatz kamen, durch die die Leute dachten, sie seien tatsächlich Hexen oder können selbst hexen.

„Bitte, Vera, ich will da unbedingt hin!“

„Na gut“, gab ich nach, „aber nur, wenn wir ein paar klare Regeln aufstellen!“, gab ich nach.

„Und welche Regeln wären das?“, erkundigte sich Kim und zückte einen Stift.

„Was machst du?

„Ich schreibe mit“, erklärte Kim grinsend, „schließlich will ich keine Regel vergessen.“

„Gut. Meine erste Regel lautet: Lasse dich nicht auf fremde Leute ein. Meine zweite Regel lautet: Trinke keinen Alkohol. Meine dritte Regel lautet: Nehme keine unbekannten Substanzen ein, die dir angeboten werden – egal welche bunte Farbe sie haben oder als Smarties verkauft werden.“

„Du bist ziemlich streng“, fand Kim, doch sie schrieb eifrig mit.

„Nur unter diesen Bedingungen gehen wir dorthin!“

„Naja“, seufzte sie, „schon gut. Ich mache ja mit.“ Kim setzte einen Punkt unter meine dritte und letzte Regel.

„Und wann ist das Fest?“, wollte ich wissen. Ich schielte auf den Flyer, den Kim mitgebracht hatte. „Heute Abend?“ Geschockt schrie ich auf. „Das gibt es doch nicht!“

„Bitte, Vera, ich habe doch extra alle Regeln mitgeschrieben und werde sie auch ganz sicher beherzigen.“

„Kim, du machst mich echt fertig. Na gut, ich komme mit dir.“


Wenig später saßen wir in meinem Auto und ich tippte die Adresse ein, die mir Kim nannte.

„Wir müssen zum Blocksberg, steht auf der Einladung“, erklärte mir Kim und tippte wild mit dem Finger darauf.

„Ja, ich habe es schon gesehen. Mach den Flyer nicht kaputt, sonst steht gar nichts mehr drauf!“

„Ich bin ja schon vorsichtig!“, meinte Kim und zog rasch ihren Finger zurück. „Ich bin nur so aufgeregt!“

„Das freut mich, aber komm mal ein bisschen runter“, murrte ich, da mir ihre durchgeknallte Art auf die Nerven ging und ich mich aufs Fahren konzentrieren musste.

„Hast du eigentlich ein Kostüm dabei?“, wollte Kim nach einer Weile wissen, nachdem sie angenehme Sekunden geschwiegen hatte.

„Ein Kostüm?“ Erschrocken schaute ich sie an.

„Schau auf die Straße! Schau nicht mich an, schau auf die Straße!“, schrie Kim panisch.

„Ja ja, schon gut“, meinte ich gelassen und konzentrierte mich wieder auf die Straße. „Aber was ist nun mit diesem blöden Kostüm? Muss ich da wirklich in einem Kostüm auftauchen?

„Ja. Ohne Kostüm kommt man nicht hinein“, erklärte sie mir.

In diesem Moment ging mir auf, was Kims Plan gewesen war. Sie hatte mich nur gebraucht, damit ich sie dorthin fuhr. Dann wollte sie mich draußen stehen lassen, da ich kein Kostüm trug. Aber das hätte sie wohl gerne! Sie hatte nicht mit mir gerechnet.

„So kannst du leider nicht mit reinkommen.“ Schadenfreude lag auf ihrem Gesicht.

„Ah, da fällt mir ein, ich habe noch einen Müllsack im Kofferraum liegen. Der sieht sehr hexisch aus. Den kannst du gerne anziehen, Kim.“

„Wieso ich?“, wollte Kim verwundert wissen. „Ich habe doch ein Kostüm.“

„Das denkst aber auch nur du!“, erklärte ich, und grinste ebenfalls. „Das ziehe ich an. Du gehst im Müllsack – im Hexensack!“

Doch als ich das Kostüm sah, wusste ich nicht, was nun besser war: Müllsack oder Kostüm. Beides war schrecklich. Da ich allerdings keine andere Wahl hatte, ergab ich mich meinem Schicksal. Wir zogen uns um. Ich nahm das Kostüm, Kim den Müllsack. Noch einmal wollte ich kurz die Regeln durchgehen, die ich zuvor aufgestellt hatte, doch Kim grinste mich nur breit an und meinte: „Vergessen!“

„Kim, das ist jetzt nicht dein Ernst⁈“, wollte ich aufgebracht wissen.

„Vera, es tut mir …“, setzte sie schuldbewusst an, doch ich unterbrach sie.

„Du bist eine richtige Hexe! In jeder Hinsicht!“ Fieberhaft suchte ich nach einer Schnellen Lösung, um mich bei ihr für diese Aktion zu rächen. Da kam mir ein brillanter Einfall. Mit meinem hässlichen Hexenkostüm rannte ich zurück zum Auto und stieg ein.

„Vera?“, kreischte Kim erschrocken auf. „Du lässt mich jetzt nicht allein!“

„Ich glaube, genau das mache ich jetzt. Viel Spaß auf deiner Party!“ Mit diesen Worten schlug ich die Tür zu und fuhr davon. Entsetzt blickte mir Kim hinterher. Dass ich an der nächsten Ecke, sobald sie mich nicht mehr gesehen konnte, anhielt, wusste sie schließlich nicht. Natürlich wäre ich nicht ohne sie davon gefahren. Doch den Schock, den ich Kim soeben eingejagt hatte, war mir Genugtuung genug. Schadenfroh parkte ich und wartete noch ein paar Minuten, ehe ich ausstieg, um Kim zu folgen.

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