top of page

Epilepsie

Vera Sturm

Eine von dir als Kanonenfutter konzipierte Figur übernimmt unerwartet eine wichtige Rolle.

„Tut mir leid, wenn ich das so sage“, flüsterte ich Dina zu, „aber selbst beim Laufen ist Kim eine Witzfigur.“

Gerade schlenderten wir durch die Fußgängerzone der Ettlinger Innenstadt und beobachteten Kim, die vor uns her stakste. Ihre harte Gangart brachte mich jedes Mal fast zum Lachen. Wie in tapsiges Kind mit Gleichgewichtsstörung kam sie mir manchmal vor.

„Hilfe!“, schrie jemand. Noch bevor ich begriff, was eigentlich vor sich ging, war Kim bereits zur Stelle.

Vor ihr lag ein etwa fünfzigjähriger Mann am Boden. War er gestürzt? Kim hielt alle Passanten fern. Der Mann zitterte am ganzen Körper und verkrampfte sich.

„Man muss ihm helfen!“, kreischte eine Frau und wollte ihn festhalten.

„Nein“, rief Kim entsetzt, „lassen Sie ihn liegen!“

„Mama, was hat der Mann?“ Ein kleines Kind zerrte mit weit aufgerissenen Augen am Arm seiner Mutter, die Schwierigkeiten hatte, es festzuhalten.

„Wieso liegenlassen? Nicht, dass er sich verletzt“, meinte die Frau. „Wir müssen ihn festhalten.“

„Er verletzt sich, wenn wir ihn festhalten. Wir müssen alle spitzen Gegenstände um ihn herum beiseite räumen: Scherben, Steine oder Äste, an denen er sich verletzen könnte“, wies Kim die Frau streng an. „Vera, schau bitte auf die Uhr!“, rief sie mir zu. „Und merke es dir.“

Ohne zu verstehen, wieso ich ausgerechnet jetzt auf die Uhr schauen sollte, tat ich es.

„Mama“, zeterte das Kind, „was hat der Mann?“

Die Mutter schien selbst mit der Situation überfordert zu sein. Verzweifelt versuchte sie, es zu beruhigen.

„Der Mann hat einen epileptischen Anfall“, erklärte Kim dem Kind. „Dabei verkrampfen sich alle Muskeln und man kann es nicht kontrollieren. Wir können ihm gerade nicht helfen.“

Geistesgegenwärtig zog ich mein Handy hervor. „Ich rufe den Notarzt“, rief ich Kim zu, die mir mit hochgehaltenem Daumen signalisierte, dass es richtig war.

„Hat jemand eine Jacke?“, rief sie den Passanten zu. „Schnell, ein Pulli reicht auch!“ Genervt riss sie einer älteren Dame den dicken Schal von den Schultern, der ihr nur als Modeaccessoire diente und knüllte diesen hastig zusammen.

„Was für ein freches Gör!“, empörte sich die Alte.

Kim legte den erbeuteten Stoff unter den Kopf des Mannes, damit er weich lag.

„Sie sind hier das Gör!“, legte sich Kim sofort mit ihr an. „Der Mann braucht Hilfe und Sie stehen nur herum und wollen gut aussehen. Stellen Sie sich vor, Sie lägen hier.“

Augenblicklich verstummte die Frau.

Kim wandte sich wieder an das verängstigte Kind und erklärte ihm allerlei über Epilepsie, was ich selbst noch nicht wusste. Ich hatte mich zu ihr gestellt, um ihr zu helfen und alles mitzubekommen.

„Weißt du“, erklärte sie mit ruhiger Stimme, „ein epileptischer Anfall kann auf viele Arten auftreten. Manche Menschen bekommen kurz nichts mit und sind wie in einer anderen Dimension. Andere haben leichte Zuckungen oder verbale Auffälligkeiten oder Bewusstseinseinschränkungen. Die schlimmste Form ist der große Anfall. Diesen hat der Mann gerade. Dabei verkrampfen alle Muskeln, was der Betroffene nicht mehr steuern kann.“

Endlich entspannte sich der Mann wieder und schien zur Besinnung zu kommen. Er atmete schwer und schien erschöpft zu sein.

Hastig kniete sich Kim neben den Mann und brachte ihn in die stabile Seitenlage. Ich wusste gar nicht, dass sie diese beherrschte und so viel über Epilepsie wusste.

„Hallo“, sprach sie ihn an, „können Sie mich hören? Wie geht es Ihnen?“

„Nun ja, den Umständen entsprechend gut“, seufzte er. „Ich hatte wieder einen Anfall, nicht wahr?“

„Ja, aber bleiben Sie einfach so liegen, der Notarzt ist verständigt. Vera, was sagt die Zeit?“, wandte sie sich an mich.

„Es war knapp eine dreiviertel Minute“, teilte ich ihr mit.

„Okay, danke. Das ist wichtig zu wissen, um es dem Notarzt mitzuteilen.“

„Ich bin beeindruckt, du kennst dich gut aus. Leider ist das nicht mein erster Anfall, aber dafür ein etwas längerer.“ Er atmete schwer aus. „Danke für deine Hilfe. Du musst wissen, ich habe alles gehört, nur hatte ich keine Kontrolle in diesem Moment über meinen Körper.“

Bereits kurze Zeit später hörte ich Sirenen und ein Rettungswagen mit Blaulicht bahnte sich den Weg durch die volle Fußgängerzone.

„Platz da!“, rief Kim erbost. „Wenn ihr Hilfe braucht, wollt ihr auch, dass es schnell geht. Also bewegt eure faulen Ärsche auf die Seite und lasst den Rettungswagen durch!“

Das zeigte Wirkung. Augenblicklich spaltete sich die Menge der Schaulustigen und der Notdienst konnte weiterfahren.

Dina scheuchte die Leute zusätzlich beiseite, um dem Auto einen freien Weg zu garantieren.

Die Sanitäter sprangen aus dem Auto und eilten zu dem Mann hin, der mit dem Kopf auf Kims Schoß lag. Mit wenigen Handgriffen hatten sie ihn auf ihre Liege gehievt, damit er einigermaßen weich lag.

„Vielen Dank“, rief er und half mit, so gut er konnte. „Diese junge Frau hier hat sich ausgezeichnet um mich gekümmert“, erklärte der Mann glücklich. „Sie ist eine Heldin.“

Kim wurde rot.

„Sehr lobenswert“, meinte einer der Sanitäter.

„Danke“, freute sich Kim. „Ich kann Ihnen sogar die Dauer des Anfalls sagen: fünfundvierzig Sekunden.“

„Ausgezeichnet, Menschen wie Sie braucht die Welt“, meinte der andere Sanitäter. „Zwischen wenigen Sekunden bis zu zwei Minuten ist alles ungefährlich. Normalerweise hört er auch in diesen Zeitraum von allein wieder auf. In manchen Fällen kann es bis zu drei Minuten anhalten.“

„Zur Sicherheit würden wir Sie dennoch gerne mitnehmen, wenn Sie wollen“, richtete sich sein Kollege an den Patienten.

„Nicht nötig, vielen Dank. Ich bin einfach erleichtert, dass nichts passiert ist. Nun muss ich mich ausruhen.“

„Ihre Schürfwunden sollten Sie lieber ärztlich behandeln lassen“, riet er ihm, die er gerade entdeckt hatte.

„Dann nehmen Sie mich eben mit, sonst haben Sie ja gar nichts zu tun“, scherzte er. „Diese junge Frau hat schon alles Notwendige getan.“ Zum Dank drückte er Kim einen Zehn-Euro-Schein in die Hand. „Davon kaufen Sie sich jetzt ein schönes Eis. Nun seien Sie nicht so bescheiden und nehmen das Geld an. Das haben Sie sich wirklich verdient.“

„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, meinte Kim. „Aber trotzdem danke. Ich esse mein Eis auf Sie.“

Während der Mann in den Krankenwagen geladen wurde und dieser davonfuhr, brachte Kim der alten Frau ihren Schal zurück. Diese marschierte grimmigen Blickes einfach davon. Langsam löste sich auch die Menschenmenge der Schaulustigen wieder auf und alles kehrte in den ursprünglichen Trubel zurück.

„Wirklich toll, wie du das gemacht hast, Kim“, lobte ich sie. „Das Eis hast du dir nun wirklich verdient.“

„Danke. Kommt, ich lade euch ein“, bot sie an. „Dann erzähle ich euch, woher ich das alles weiß.“

Auf ihre Erzählung war ich sehr gespannt.

bottom of page