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Erpresst von meinen eigenen Charakteren

Niklas Böhringer

Deine verbittertste Figur darf einen Tag auf den Plot deines Lebens Einfluss nehmen. Was passiert?

Nicht mehr viel, dann war mein Buch endlich fertig. Ich fieberte schon dem Ende entgegen. Zwei Kapitel noch.

„Niklas, Essen!“, rief meine Mutter von unten. Immer dasselbe! Ich war mitten in der Geschichte, da riss sie mich heraus, um zu essen.

„Ja-ha!“, rief ich zurück. Meine Zimmertür war geschlossen, doch trotzdem hörte ich die ständigen Rufe, die sich noch mindestens zehnmal wiederholen sollten.

„Das Essen wird kalt!“ Diesmal war es mein Vater – keine Minute später.

„Ja-ha!“ Nur noch diesen Absatz fertig. Ich konnte doch nicht mittendrin abbrechen! Für mich gab es nichts Schlimmeres, als aus der Geschichte gerissen zu werden, doch genau das taten meine Eltern gerade.

„Niklas!“ Wieder meine Mutter.

„Ich bin schon da!“, schnauzte ich zurück. Wieso konnten sie es nicht verstehen, dass ich nicht so einfach aufspringen konnte. Schließlich war eine Geschichte eine Welt, in die man eintauchen musste und wieder „auftauchen“, das ging nicht so schnell. Vor allem nicht mittendrin. Aber da stieß ich bei ihnen auf steinerne Unverständnis.

Speichern – den PC auf „Ruhemodus“ geschaltet, damit ich nach dem Essen gleich weiter schreiben konnte. „Ich komme schon!“, ließ ich meine Familie wissen, die mich bereits erwartete.

Ihre Teller waren fast wieder leer, doch das war mir gleichgültig. Was sollte ich schließlich tun? Ich ließ mich eben nur ungern aus meiner Welt reißen.

Nach dem Essen wollte ich meinen Computer wieder hochfahren, doch irgendwie ging das nicht. Gespeichert hatte ich aber meine Geschichte … Ganz sicher war ich mir da gerade nicht mehr. Die Nervosität stieg in mir auf. Was sollte ich tun?

„Papa“, ich lief in den Gang, „läuft bei euch der Strom?“

„Ja, alles normal“, antwortete er ahnungslos.

„Na super, bei mir nicht!“

„Meistens sitzt das Problem vor dem Gerät“, ließ er mich wissen – einen seiner altklugen Sätze, doch so ganz unrecht hatte er damit ja nicht. Oft lag es nur an einem Denkfehler oder etwas anderem, das man vergessen hatte. Doch diesmal war ich mir sicher, dass ich nichts falsch gemacht hatte.

„Kannst du bitte mal kommen?“, bat ich ihn.

„Na gut, ich komme.“ In dem Moment, als er mein Zimmer betrat, fuhr jedoch der Computer wieder hoch.

„Hat sich erledigt“, gab ich genervt zu, „er ist gerade wieder hochgefahren.“

Lachend verließ Papa wieder mein Zimmer. „Wie ich immer sage: Einfach abwarten, meistens erledigt es sich schon von allein.“

„Mhm“, brummte ich.

Endlich konnte ich wieder in meine Welt abtauchen und zu meinen Charakteren zurückkehren, über die schrieb.

Zur Sicherheit wollte ich noch einmal kurz zwischenspeichern, doch dann hängte sich das Programm auf und nichts ging mehr. Was war jetzt los? Leicht panisch schob ich die Maus hektisch hin und her, was jedoch nichts brachte. Mist! Papa wollte ich nicht schon wieder holen, also wartete ich ab. Doch als es nach einer gefühlten Ewigkeit noch immer nicht funktionierte, öffnete ich den Task-Manager und beendete manuell das Programm.

Plup!, das Fenster schloss sich. Als ich das Programm wieder öffnete, stand da vielversprechend „Wiederherstellen“. Schnell klickte ich darauf, doch der letzte Zwischenstand fehlte. Knapp zwei Seiten, die verlorengegangen waren.

„Oh nein!“ Verzweifelt scrollte ich durch das Dokument, doch die fehlenden Seiten tauchten natürlich nicht mehr auf. Panisch versuchte ich mich daran zu erinnern, was ich geschrieben hatte, doch alles, was ich vor dem Essen getippt hatte, war wie aus meinem Kopf verschwunden. Als ob ich es niedergeschrieben hätte und anschließend gelöscht.

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich atmete hektisch. Wie sollte ich bloß den verlorengegangenen Text wieder so hinbekommen, wie ich ihn hatte? Ich wusste nicht mehr, was ich geschrieben hatte. Ich wusste nur noch, dass ich es gemocht hatte.

Da ploppte das E-Mail-Fenster auf und mir stach eine Mail ins Auge. Unsicher öffnete ich sie und begann zu lesen.

Wie du sicher bemerkt hast, funktioniert dein Computer nicht mehr wie gewünscht. Das ist die Rache dafür, was du uns angetan hast. Du hast uns bereits den zweiten Fluch an den Hals gehängt (oder wie auch immer man das sagt). Wenn du nicht augenblicklich unsere derzeitige Situation änderst, wirst du schwer zu kämpfen haben, je wieder eines deiner Bücher auf deinem Computer aufrufen zu können.

PS: Die fehlenden Seiten sind nicht aus Zufall verschwunden. Damit waren wir ganz und gar nicht einverstanden! Beende auf der Stelle unseren Fluch!

Abscheuliche Grüße

Kim

Die Rache? Mir quollen fast die Augen über. Ich hatte meinen Figuren einen unschönen Fluch beschert, das stimmte, doch ich war gerade dabei, diesen wieder zu lösen. Die fehlenden Seiten – jetzt erinnerte ich mich wieder daran – hatten einen Fehlschlag beschrieben.

Wenn es die Lösung war, den Fluch auf der Stelle zu beenden, wollte ich dies augenblicklich tun. Es war verrückt, dass ich von meinen Charakteren erpresst wurde, doch ich konnte es auch ein bisschen nachvollziehen, da ich ihnen all das Übel und Unglück beschert hatte. Vor allem Kim, die mir diese Mail geschrieben hatte.

Ich hätte es auch nicht gut gefunden, unter einem solchen Fluch zu leiden und Kim hatte wohl am meisten darunter gelitten. Oh je, was hatte ich da nur angerichtet? Doch die wichtigere Frage war: Konnte ich es wiedergutmachen? Dina und Vera verziehen mir bestimmt, aber bei Kim war ich mir da nicht so sicher. Ich konnte nur hoffen, dass sie sich mit meinem Ende, das ich mir nun spontan überlegt hatte, zufriedengeben würde. Ansonsten war mein komplettes Buch und auch alle anderen Manuskripte, die noch auf meiner Festplatte lagen, verloren. Das Ende gefiel mir zwar nicht, doch nun galt es nur noch zu überleben. Ob es nun gut war oder nicht, war nebensächlich. Meine Hoffnung war nur, dass ich Kims Zorn mildern konnte.

Das Ende konnte ich schließlich in der Überarbeitung noch einmal stark überarbeiten oder sogar neu schreiben. Davon hatte sie schließlich nicht gesprochen …

Ich begann nun zu tippen und sicherte alle paar Sätze das Dokument, dass auch wirklich nichts mehr schiefgehen konnte. Beenden konnte ich es heute zwar nicht mehr, doch das sehr andere Ende war nun in greifbarer Nähe – mit Kim als Heldin der Geschichte. Eitel wie sie war, konnte sie das möglicherweise überlisten.

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