Guten Rutsch und Bleigießen
Vera Sturm
Silvester / Neujahr - Teil 01
Silvester / Neujahr 01: Guten Rutsch und Bleigießen
31. Dezember 2022 – Silvester.
Ich hatte meine besten Freundinnen Kim und Dina zu mir eingeladen, um gemeinsam Silvester zu feiern. Auch Tiago, Dinas Freund, war dabei.
Lachend saßen wir um den Esstisch und warteten geduldig darauf, dass unsere gerichteten Pfännchen fertig wurden. Wie es nämlich von jeher bei meiner Familie Tradition ist, machten wir jedes Jahr an Silvester Raclette, worauf ich mich immer sehr freute.
„Oh, ich muss noch meine Mama anrufen. Ich habe es ihr versprochen“, fiel mir ein. „Wenn mein Pfännchen fertig ist, holt es bitte heraus. Ich bin gleich wieder da.
Ich wählte und hatte bereits wenige Sekunden später meine Mutter am Telefon.
Martha Sturm am Apparat.
„Hallo, Mama, ich bin‘s, Vera. Ich wollte dir einen guten Rutsch ins neue Jahr wünschen. Bist du bei Freunden?“
Wo sonst? Du treulose Tomate bist ja nicht bei mir!
„Mama, ich …“, setzte ich an.
Ach, lass, Kindchen. Du brauchst dich dafür nicht zu rechtfertigen. Ich finde es schön, dass du mit deinen Freunden feierst. Ich sitze hier mit den Nachbarn zusammen. Das ist auch schön. Also dann, bis nächstes Jahr. Vorher sehen wir uns ja nicht mehr. Mein Pfännchen ist fertig.
„Dann bis nächstes Jahr, Mama. Einen guten Rutsch!“
Rutsch gut rüber, bis dann. Grüße an deine Freunde.
„Dein Pfännchen ist fertig!“, rief Kim.
„Sie telefoniert“, hörte ich Dina rufen, „hast du das schon wieder vergessen? Hole es einfach heraus.“
„Au!“, brüllte Kim auf.
Na super, jetzt hatte sie sich auch noch meinetwegen verbrannt. Bevor ich zurückkehrte, machte ich einen Abstecher in die Küche, um einen Kühlbeutel zu holen.
„Woher …?“, wunderte sich Kim, als ich ihr das kühlende Bündel auf den Arm legte.
„Ich habe dich brüllen gehört. Danke, dass du mein Pfännchen gerettet hast.“
„Ah.“ Beschämt lachte sie auf. „Gerne doch.“
„Nun lasst es euch schmecken, meine Lieben. Und einen guten Rutsch von meiner Mama. Sie feiert mit ihren Nachbarn. Bei ihnen ist auch gerade das Raclette-Pfännchen fertig geworden“, berichtete ich.
„Guten Appetit“, schmatzte Kim und mampfte direkt los.
„Vorsicht, es ist noch heiß!“, stieß ich noch aus, doch meine Warnung kam zu spät. Kims zweiter Ausfschrei an diesem Abend galt ihrer Zunge.
„Auuuu! So eine Scheiße! Wieso muss mir alles, das ich liebe, wehtun? Der verdammte Käse hängt mir am Gaumen. Ich habe mich furchtbar verbrannt!“, klagte sie. „Hast du noch ein Kühlpack, Vera?“
„Für deinen Mund? Das bringt doch nichts. Trinke etwas Kaltes, das kühlt auch“, riet Tiago ihr.
„Und was lernen wir daraus? Pusten, bevor man sich das Essen in den Mund stopft“, klagte Kim. „Das hat immer meine Mum gesagt, wenn ich mich verbrannt habe.“
„Viel gebracht scheint es ja nicht zu haben“, meinte ich bedauernd.
„Aber nun essen wir erst einmal.“
Nach dem Essen, als alles aufgeräumt war, stellte ich eine Schüssel mit kaltem Wasser auf den Tisch.
„Für mich? Zum Kühlen?“, freute sich Kim und wollte gerade daraus trinken.
„Unterstehe dich! Das ist fürs Bleigießen!“, wies ich sie darauf hin. Resigniert ließ Kim die Schüssel wieder sinken.
Ich teilte jedem von uns einen kleinen Löffel aus. In die Mitte stellte ich eine Kerze und entzündete diese. Außerdem gab es kleine Metallstücke, die zum Schmelzen gedacht waren.
„Wisst ihr, wie das geht?“, wollte ich wissen. Zu meiner Überraschung nickten alle – sogar Kim. „Super, wer möchte den Anfang machen?“
„Ich, darf bitte ich anfangen“, bat Dina und griff nach einem Metallstückchen.
Ich war froh, dass nicht Kim begonnen hatte. So konnte sie zumindest noch einmal sehen, wie es funktionierte. Aus irgendeinem Grund traute ich es ihr heute nicht ganz zu, verletzungsfrei dieses Stückchen Metall zu schmelzen.
Dina erhitzte ihr Metallstückchen, dann ließ sie den Inhalt schwungvoll ins kalte Wasser plumpsen. Als sie es herausfischte, hatte das Metall die Form eines Adlers.
„Was bedeutet das?“, wollte sie wissen.
Ich schaute in der beiliegenden Liste nach. „Der Adler steht für eine baldige Heirat“, las ich vor.
„Wie schön“, quiekte sie erfreut auf. „Tiago, hast du das gehört?“ Sie nahm ihn freudig in den Arm und sie küssten sich. „Wir werden bald heiraten.“
„Nun mal langsam, das ist nur ein Orakel. Wir müssen es nicht überstürzen“, gab er lachend zu.
„Nun will ich“, meinte Kim und schmolz bereits ein weiteres Metallstück. Sie ließ es ins Wasser tropfen und holte ein herzförmiges Stück wieder hervor. „Was bedeutet das?“
„Du wirst dich bald verlieben“, las ich vor.
„Wirklich?“, gluckste sie freudig. „In wen?“
„Das kann ich beim besten Willen nicht sehen.“
„Schade“, meinte sie enttäuscht, doch dann hellte sich ihre Miene wieder auf. „Tiago, nun bist du an der Reihe. Ich bin gespannt, was du bekommst.“
„Ein Auto. Wie passend. Bestimmt bedeutet das, dass du ein guter und sicherer Fahrer bist“, freute sich Kim, als sie seine Form sah.
„Nicht ganz. In der Liste steht, dass das Auto ein langes Leben verspricht.“
„Ach, das nehme ich auch“, freute sich Tiago.
„Nun fehlst noch du“, meinte Dina und reichte mir den Löffel.
Ich griff danach und ließ das Metallstück schmelzen, dann tropfte ich es ins Wasser. Als ich es herausholte, wusste ich nicht ganz damit anzufangen.
„Wisst ihr, was das sein soll?“, wollte ich wissen.
„Das musst du eigentlich erkennen“, meinte Dina.
„Für mich sieht es aus wie Blumen. Hier“, sie deutete auf den oberen Teil, „erkenne ich ganz klar Blütenblätter: also ist es eine Blume.“
„Blume. Mal sehen“, murmelte ich und guckte nach. „Ah, hier steht es. Blume: es können sich neue Freundschaften entwickeln. Das ist doch schön“, freute ich mich.
„Solange du uns nicht vernachlässigst“, wandte Kim ein und blickte mich mit großen Augen an.
„Natürlich nicht. Ihr seid meine besten Freunde!“, versicherte ich. „Oh, wir sollten uns allmählich bereitmachen. Der Blick auf die Uhr verrät mir, dass es nur noch wenige Minuten bis zum Neujahr sind.“
„Mädels, holt den Sekt raus“, rief Tiago.
Ich hatte eigentlich nie Alkohol im Haus, aber Orangensaft tat es schließlich auch. „Das muss reichen“, fand ich und überreichte jedem von ihnen ein Glas mit Orangensaft.“
„Immerhin sind es Sektgläser“, bemerkte Tiago belustigt.
„Die Uhr tickt“, informierte uns Kim, die gebannt auf das Ziffernblatt blickte. „Nicht mehr lange, dann ist dieses Jahr nur noch Geschichte.“
„Oho, wie philosophisch“, scherzte Dina.
„Gar nicht!“, gab sie leicht motzig zurück. „Schau lieber auf die Uhr, nicht dass wir das neue Jahr verpassen.“
„Das wird schon nicht passieren“, versicherte ich ihr.
Mit den Gläsern in der Hand, zählten wir gemeinsam herunter: „Zehn – neun – acht – sieben – sechs – fünf – vier – drei – zwei – eins – …“
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31. Dezember 2022