Horror-story: „Kau-Doktor“
Kim Posse
Deine ängstlichste Figur muss zum Zahnarzt. Wird sie den Termin wahrnehmen?
„Was ist mit dir los, Kim? Du siehst so aufgelöst aus.“ Mara, meine WG-Mitbewohnerin musterte mich besorgt.
„Ich muss sterben“, erklärte ich wehleidig.
„Sterben? Wieso das denn?“ Sichtlich irritiert ließ sie sich neben mir nieder und streichelte über meinen Rücken. „Soll ich dich begleiten?“
„Du kannst mich da nicht begleiten“, schluchzte ich und zog den Rotz in der Nase hoch.
„Brauchst du ein Taschentuch?“, bot Mara an, doch ich schüttelte den Kopf. „Ich brauche einen Tag-Überspringer.“
„Was soll das sein?“
„Damit kann ich diesen Tag überspringen.“
„An dem was genau ist? Ich verstehe immer noch nicht, was genau dein Problem ist.“ Mara lauschte ebenso erwartungsvoll wie ungeduldig, doch ich schaffte es nicht, das Wort über die Lippen zu bekommen.
„Ich zeige es dir“, machte ich mit mir einen Kompromiss und holte meinen Kalender hervor. Dann tippte ich auf den Termin, der in einer halben Stunde eingetragen war.
„Zahnarzt?“, las Mara irritiert vor.
„Nein!“, schrie ich. „Nicht dieses böse Wort!“ Panisch hielt ich mir die Ohren zu. Bereits als Kind hatte ich jeden Zahnarztbesuch gescheut und hatte wochenlang Albträume, wie er mit einer großen Zange all meine Zähne herausriss und mit einem kreischenden Bohrer in jeden Zahn ein Loch bohrte.
„Aber deine Zähne sind doch in einem guten Zustand. Du brauchst keine Angst haben. Ich gehe zu demselben Arzt und hatte nie ein Problem mit ihm“, munterte mich Mara auf – sie versuchte es zumindest.
Mit vor Schreck geweiteten Augen hatte ich mich ins letzte Eck des Sofas gequetscht und wollte den Gedanken schnell loswerden.
„Trotzdem will ich da nicht hin!“, erklärte ich.
„Warum hast du so große Angst vor dem Zahn…“, setzte Mara an, doch ich unterbrach sie laut.
„Nicht dieses Wort, bitte!“, schrie ich.
„Wieso willst du nicht dort hin?“, ließ sie sich darauf ein. „Gab es schon einmal ein schlimmes Erlebnis? Zahn gezogen, gebohrt, verplombt, gerichtet, genäht, … Was jagt dir so große Angst ein?“
„D-das macht ein Kau-Doktor alles?“ Mir wurde schlecht bei dem Gedanken.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, wunderte sich Mara, doch als sie mein entgeistertes Gesicht erblickte, gab sie sich die Antwort selbst. „Anscheinend schon. Kim, jetzt reiß dich mal zusammen. Der Kau-Doktor, wie du ihn nennst, wird dir schon nicht den Kiefer brechen.“ Sie kam ein Stück näher und schaltete die Taschenlampe ihres Smartphones ein. „So, lass mich mal sehen. Mach bitte deinen Mund auf. Ich will gucken, ob du etwas zu befürchten hast.“
Zögerlich folgte ich ihrer Anweisung und ließ mich untersuchen.
„Nichts“, stellte sie fachmännisch fest. „Du hast nichts zu befürchten.“
„Meinst du?“ Ich fasste etwas Mut und meine Schockstarre löste sich etwas.
„Das meine ich! Komm, wir putzen zusammen Zähne, dann kann dein Kieferdoktor nichts mehr zu nörgeln finden“, versicherte sie und zog mich aus dem Polster.
Im Bad putzten wir uns gemeinsam die Zähne und die Anspannung fiel allmählich von mir ab. Ich hatte neuen Mut gefasst und war bereit, den Arzt aufzusuchen.
Das Wartezimmer war fast leer. Nur eine ältere Dame ohne Gebiss grinste uns mit ihrem eingefallenen Mund zahnlos an. Leicht angewidert grüßte ich zurück und wandte schnell den Blick ab.
„Schau“, meinte Mara, „wenn du nicht so wie diese Felgenbeißerin enden willst, musst du regelmäßig den Zahnarzt nach dem Rechten sehen lassen. Dann findet er frühzeitig verdächtige Stellen und man kann diese behandeln.“
„Mara, du nimmst mir nicht wirklich die Angst“, gab ich zu.
Die Tür zum Wartezimmer sprang auf und eine Dame mit Mundschutz blickte uns an. „Kim Possible, bitte.“
„D-die ist schon geg-gangen“, stotterte ich.
„Erzähl doch keinen Schwachsinn, Kim!“, mahnte mich Mara. Sie deutete auf mich und erklärte der Arzthelferin, dass ich Kim Possible sei und große Angst vor dem Zahnarztbesuch hatte.
„Keine Sorge, der Doktor wird Sie schon nicht fressen“, bediente sich die Helferin an einem jener dämlichen Sprüche, die es nicht einmal im Witze-Heft auf die letzte Seite geschafft hatten.
Als ich aufstehen wollte, sackten meine Beine unter mir weg und ich sank zu Boden. Kurz vor dem Aufprall konnte ich mich noch fangen und schoss nur den Stuhl quer durchs Wartezimmer … der Felgenbeißerin genau gegen das Knie.
„Entschuldigung“, murmelte ich schnell, dann stürmte ich aus dem Zimmer.
Als ich mich auf dem Behandlungsstuhl wiederfand, lief in meinem Kopfkino ein Film nach dem anderen, bei dem der Zahnarzt entweder einen Zahn zog oder gehässig grinsend bohrte.
„Dann öffnen Sie bitte ihren Mund“, wies mich der Arzt an. Leise wimmernd befolgte ich seine Anweisung. Doch als er gerade den Spiegel zur Kontrolle einführen wollte, presste ich meine Zähne fest aufeinander und schüttelte den Kopf.
„Ich … ich kann das nicht!“
„Sie schaffen das“, munterte mich der Arzt auf. „Ich will nur nach Ihren Zähnen sehen. Dem ersten Blick nach zu urteilen scheint ohnehin alles in bester Ordnung zu sein. Sie müssen sich also keine Sorgen zu machen.“
Zitternd öffnete ich wieder meinen Mund und der Arzt setzte die Behandlung fort. Seiner Gehilfin nannte er sämtliche Kombinationen, mit denen ich nichts anfangen konnte.
„Zahnfleisch oben ist 2, unten auch“, diktierte er. Als er meinen fragenden Blick auffing, lächelte er. „Das heißt, dass alles gut ist.“
Erleichtert nickte ich.
„Dann wollen wir nun noch den Zahnstein entfernen, dann sind wir auch schon fertig.“ Er zückte ein Gerät und die Helferin führte mir einen Speichelsauger ein, der mehr meine Zunge angriff als zu saugen. Das Gefühl war unangenehm, aber ich kniff die Augen zusammen und dachte an etwas Schönes, wodurch es erträglicher wurde.
„Wir sind fertig.“ Der Arzt zog alle Instrumente aus meinem Mund und fuhr den Stuhl in eine aufrechte Position. „Sehr gut“, lobte er.
„Dann kommen Sie gerade mit mir“, erklärte die Helferin, „wir machen den nächsten Termin aus. In einem halben Jahr wieder.“
„Nein!“, stieß ich aus. „Bitte telefonisch.“ Dann stürmte ich aus der Praxis. Ich war nicht mehr in der Lage, schon wieder den nächsten Folter-Termin zu vereinbaren. Das musste ich in aller Ruhe zuhause machen. Aber immerhin war dieser Zahnarztbesuch nicht allzu schlimm gewesen. Vielleicht, so dachte ich mir, hatte ich es nur immer als so schlimm empfunden, wobei es das gar nicht war.
Mara, die draußen auf mich wartete, legte ihren Arm auf meine Schulter. „Siehst du, so schnell ist es schon vorbei.“ Sie lächelte. „Ich habe auch bald meinen Termin. „Komm, wir gehen heim, meine tapfere Freundin!“