It is only borrowed
Kim Posse
Deine Prota will ein Fortbewegungsmittel stehlen. Eine neugierige alte Nachbarin unterbricht das Vorhaben. Wie läuft das Treffen ab?
„He, was machen Sie da?“ Eine alte Frau stiefelte aus ihrem Haus und schwang einen langen Reisigbesen, den ich so nur aus alten Filmen aus Amerika kannte.
Ich fuhr herum und ließ von dem Fahrrad ab, über das ich mich gerade gebeugt hatte. „Ich … ich versuche, dieses Fahrrad aufzuschließen“, erklärte ich.
„Das können Sie lange versuchen. Das wird nicht funktionieren! Das ist nämlich mein Fahrrad!“, motzte mich die alte Frau an.
„Ihr Fahrrad?“
„Oh, wie schön, Sie scheinen mich zu verstehen“, meinte sie, dann wurde sie ernst und ihre Stimme härter. „Dann sollten Sie auch kapieren, dass Sie sich hier an meinem Fahrrad vergreifen! Was fällt Ihnen eigentlich ein?“
„Tut mir leid“, erklärte ich. Aber ich benötigte dringend ein Fahrrad. Ein eigenes hatte ich nicht. Wo war die freundliche Nachbarschaft, die in Not aushalf?
„Was tut Ihnen leid?“
„Ich … ich brauche ein Fahrrad und wusste nicht, wem es gehört.“
„Aha!“ Verblüfft ließ die Alte den Besen sinken. „Und dann machen Sie sich lieber mit dem Bolzenschneider ans Werk anstatt zu klingeln und zu fragen, ob Sie es ausleihen könnten?“ Sie schüttelte den Kopf. „Unfassbar, dieser heutige Jugend. Wo bin ich hier nur hineingeraten?“
„Ich wusste doch nicht, dass es Ihr Rad ist“, verteidigte ich mich.
„Na super, aber einfach mal mitnehmen. Finden Sie das in Ordnung?“
„Ich hätte es doch wieder zurückgebracht. Ich stehle es ja nicht.“
„Würden Sie es wollen, wenn jemand ohne zu fragen einfach Ihr Fahrrad ausleiht?“
„Ich habe ja kein Fahrrad“, seufzte ich.
„Dann eben etwas anderes! Hier geht es ums Prinzip! Würden Sie das wollen?“, motzte die Frau und hob den Besen wieder höher.
„Na ja, wenn ich weiß, dass es unversehrt wieder zurückgebracht wird, würde es mich nicht stören“, fand ich. Ich ging schließlich mit fremden Sachen so um wie mit meinen eigenen. Da hoffte ich, dass es andere auch so taten.
„Und das wissen Sie, wenn eine wildfremde Person ihr Fahrrad ausleiht?“ Die alte Frau schwang nun den Besen wie ein Ninja sein Bambusrohr. „Das wissen Sie nämlich nicht. Ebenso wenig, ob es wieder unversehrt zurückgebracht wird. Ob es überhaupt zurückgebracht wird.“
„Ich wollte es doch nicht klauen!“, versicherte ich. „Bitte glauben Sie mir das!“
„Wissen Sie was?“ Das Gesicht der Frau wurde freundlicher und sie senkte den Besen ab. „Ich werde Ihnen mein Fahrrad ausleihen. Wenn Sie es wieder zurückbringen, wie sie es abgeholt haben, stört mich das ja gar nicht. Aber zumindest fragen hätten Sie können.“
Verdutzt guckte ich sie an. „D-danke. Das ist sehr aufmerksam von Ihnen. Wieso haben Sie so plötzlich Ihre Meinung geändert?“
„Geändert nicht“, erklärte sie, „aber aufgeschoben. Ein normaler Dieb hätte sich wohl kaum so lange mit mir unterhalten und gestritten. Das wäre sehr dämlich, schließlich könnte ich bei der Polizei eine genaue Personenbeschreibung abgeben, vergessen Sie das nicht!“ Sie grinste überlegen. „Hätten Sie normal gefragt, wäre es für mich überhaupt kein Problem gewesen. Ich helfe gerne und hätte Ihnen mein Fahrrad sehr gerne ausgeliehen. Ich selbst fahre schließlich nicht mehr so oft. Dafür bin ich zu alt. Aber ich finde es unerhört, wenn man sich ungefragt an fremdem Eigentum vergreift und auch noch mit einem Bolzenschneider das Schloss zu öffnen versucht.“
Geknickt blickte ich die Frau an, die wieder zurück in ihr Haus lief. Kurz darauf kam sie zurück und reichte mir einen Schlüssel.
„Danke.“ Ich nahm ihn entgegen und schloss das Rad auf.
„Wenn Sie auf den Markt gehen, können Sie mir noch ein paar Eier und Käse mitbringen?Das Geld gebe ich Ihnen, wenn Sie wieder hier sind. Nicht, dass Sie damit abhauen! Das wäre ja noch schöner.“
„Ich wollte ohnehin in diese Richtung. Ich bringe Ihnen mit, was Sie wollten“; versprach ich und stieg auf.
„Und vergessen Sie nicht, ich will mein Fahrrad unversehrt zurückbekommen. Hat es auch nur einen kleinen Kratzer, werden Sie dafür aufkommen! Haben Sie das verstanden?“
Eingeschüchtert nickte ich. Fast wäre ich umgekippt, als ich diese Forderung gehört hatte.
„Ich warte auf Sie.“ Die Frau guckte auf ihre Armbanduhr. „Wenn Sie vor Mittag nicht zurück sind, verständige ich die Polizei. Sehen Sie das als kleine Kontrolle. Nur zur Sicherheit.“
„Ok-k-kay“, murmelte ich völlig überfordert von der Situation. Bei dieser Dame würde ich wohl nie wieder ein Fahrrad ausleihen. Sie war mir zu gefährlich.
„Bis dann“, meinte sie und tippte auf die Uhr, „die Zeit läuft.“
Ich stieß mich ab und radelte los.
„Tick, tack, tick, tack“, rief sie mir noch hinterher, dann hörte ich sie endlich nicht mehr und steuerte dem Marktplatz entgegen. Eigentlich musste ich in genau die entgegengesetzte Richtung, doch zuerst wollte ich die Einkäufe der Frau besorgen. Nicht, dass es ausverkauft war, bis ich ankam. Und die Polizei wollte ich wirklich nicht auf mich angesetzt haben. Das war selbst mir zu viel.