Kofferpacken: geteilte, doppelte Arbeit
Vera Sturm
Dieses Kapitel ist ein Ausschnitt aus meiner neuen Buchreihe rund um Kim, Vera und Dina. Es heißt „Kofferpacken: geteilte, doppelte Arbeit“ und ihr werden sicher schnell verstehen, wieso.
„Da bist du ja endlich!“, empfing mich Kim ohne Begrüßung.
„Hallo, Kim“, sagte ich daher.
„Hallo. So, und jetzt komm. Mein Koffer wartet nicht. Wir müssen packen!“
„Kim, du bist verrückt!“, teilte ich ihr ohne zu zögern mit, doch sie ignorierte diese Äußerung einfach. Verblüfft lachte ich auf. In ihrem Zimmer lag ein riesiger Haufen Klamotten auf dem Boden, der selbst dem Matterhorn Konkurrenz machen konnte – oder wie hieß der höchste Berg von Deutschland? Ach, egal! Meine Erdkundekenntnisse waren manchmal so gut wie die eines Erstklässlers.
„Was ist das?“, entfuhr es mir. „Spielst du Reise nach Jerusalem oder die Besteigung des Mount Everest?“
„Ich packe!“, gab Kim trocken zurück.
„Das sehe ich!“ Nur mühsam konnte ich mir ein Lachen unterdrücken.
„Wie lege ich das am besten zusammen, dass es alles in diesen Koffer passt?“, wollte Kim wissen.
„Das alles?“ Ich zeigte auf den Berg und sie nickte. „Da rein?“ Ich deutete auf den Koffer und sie nickte erneut. „Gar nicht. Wenn du versuchst, einen Aktenordner in deinen Geldbeutel zu stopfen, kommt es in etwa aufs Gleiche heraus.“
„Aber ich habe auf YouTube ein Video von einer chinesischen Einpackerin gesehen. Sie hat das so gefaltet, dass plötzlich der Schrank halbleer war. Über sie gibt es sogar eine Dokumentation.“
„Dann mach das doch“, forderte ich sie auf. Das war mir doch völlig egal, ob es eine Doku darüber gab. Diese würde die Klamotten auch nicht falten.
„Kann ich nicht. Ich habe es schon probiert!“ Enttäuscht verschränkte Kim die Arme vor der Brust.
„Na gut, zeig mal her, dieses Video. Aber du machst mit. Glaub ja nicht, dass ich dir den Koffer allein packe!“, wies ich sie zurecht.
Kim schüttelte den Kopf und öffnete das Video. „Hier!“ Sie hielt es mir direkt unter die Nase.
„Geht‘s noch näher?“, beschwerte ich mich. Daraufhin drückte sie es mir komplett ins Gesicht. „Das nennt man Ironie!“
„Ach so!“ Kim hielt es endlich in einem Abstand, der nicht zu nah und nicht zu weit weg war.
„Okay, das ist wirklich kompliziert“, musste ich zugeben, nachdem das Video zu Ende war. „Aber wir wollen es versuchen!“ Ich schnappte mir ein T-Shirt – ein wirklich hässliches mit lilafarbenen Punkten auf einer rosaroten Fläche. „Klappt doch!“, freute ich mich, als ich es Schritt für Schritt der Frau im Video nachgeahmt hatte. „Komm, Kim. Mach mit.“
„Das hört sich vielleicht dämlich an.“ Sie lachte auf und wiederholte meinen Satz: „Komm, Kim, mach mit. King Kong, ding dong. Mini-Rindvieh, Rotkohl, Alkohol.“
„Dann mach auch und labere nicht nur blöd! Du Mini-Rindvieh!“ Meine Geduld war fast am Ende. „Ich wünsche dir wirklich Klamotten-Motten. Die würden meine Arbeit erheblich erleichtern.“
„Du bist gemein!“ Beleidigt schmollend schob sie ihre Unterlippe vor. Ich und gemein? Und wie! Aber das hatte schließlich einen guten Grund. Ich sagte allerdings nichts mehr, ehe ich den kompletten Koffer noch allein packen musste.
„Wie nennt man die Krankheit, wenn man gegen Aluminium nur ein Minimum an Immunität hat?“, fragte ich sie unerwartet.
„Hä?“
„Falsch. Aluminiumminimumimmunität!“ Ich lachte Tränen, als ich Kims verdatterten Blick sah und legte die Klamotten weiter zusammen. Warum musste ich sie überhaupt zusammenlegen? Im Schrank waren sie auch nicht nur hinein geschmissen. Aber Kim wollte ihre gigantische Falttechnik aus Japan oder woher sie auch immer kam. Da war sie wieder, meine super Landeskunde. Oder auch nicht. Ich konnte wirklich vergeblich danach suchen. Was es nämlich nicht gab, konnte ich nicht finden!
„Egal, pack endlich mit!“, wies ich sie an und reichte ihr die bereits zusammengelegten Klamotten. Kim griff danach und legte es – nein, sie warf es regelrecht! – in den Koffer hinein, dass alles wieder aufging. „Was machst du?“, motzte ich sie an.
„Oh, das war wohl etwas zu schwungvoll“, meinte Kim und holte wieder alles heraus. „Kannst du das bitte erneut zusammenlegen?“ Sie platzierte es auf dem Berg, der komplett in diesen Koffer hineinpassen musste. „Ich muss kurz aufs Klo“, entschuldigte sie sich.
„Ja, hau ab!“, rief ich ihr hinterher. So musste ich zwar alles allein machen, aber immerhin hatte ich meine Ruhe. Meine Geduld war wirklich am Ende und ich musste mich irgendwie ablenken. Leise summte ich ein Lied vor mich hin, das mir in den Sinn kam.
„Juchhu!“ Mir entfuhr ein kleiner Freudenschrei, als ich das letzte Kleidungsstück zusammengelegt und im Koffer verstaut hatte. Ich zog den Reißverschluss zu und schob ihn unters Bett.
„Kim, ich bin fertig!“, rief ich, doch niemand war zu sehen. „Kim! Ich bin fertig!“, wiederholte ich und betonte jede Silbe einzeln. Noch immer war niemand zu sehen. Weder Kim noch ihre Mitbewohnerinnen schienen zuhause zu sein. Nun regte sie mich wirklich auf. War ich ihre Sklavin oder Freundin? Das fragte ich mich gerade wirklich. Wer nutzte schon seine Freunde so aus?
„Bist du schon fertig? Wie schön.“ Kim kam gerade aus dem Bad und strahlte mich an. Am liebsten hätte ich ihr eigenhändig den Hals umgedreht. Erst ließ sie mich die ganze Arbeit allein machen, dann grinste sie mich auch noch so frech an!
„Ich gehe! Mir reicht‘s“, beschwerte ich mich und schnappte mir meine Schuhe.
„Warte, kannst du noch auf meinem Kalender gucken, welchen Tag wir heute haben? Ich habe noch irgendetwas vor, aber habe vergessen, was.“ Kim sah mich flehend an.
„Na gut“, gab ich nach, „aber dann bin ich weg!“ Ich lief in die Küche und guckte auf den Kalender. „Da steht nichts drin!“, brüllte ich. „Willst du mich verarschen?“
Kim begann laut zu lachen. „Ja, schau mal auf das Datum.“
„Das Datum?“ Ich guckte genauer hin. Es war der … natürlich. Der erste April. „Haha, wie witzig! Ich lache mich tot!“, klagte ich. Sie hatte mich tatsächlich voll erwischt!
„Das haben wir in der Schule durchgenommen, dass man am ersten April andere reinlegt“, freute sich Kim.
„Dann hattest du ja Erfolg. Soll ich es dir unterschreiben oder glaubt es dir auch so jemand?“ Zum Lachen war mir nicht mehr zumute. Warum war ausgerechnet ich auf ihren dämlichen Scherz hereingefallen?
„Aber das ist praktisch. So muss ich schon den Koffer nicht mehr packen. Es war witzig und nützlich“, freute sich Kim.
„Auch nur für dich. Ich habe weder etwas vom einen noch vom anderen!“, jammerte ich. „Aber jetzt will ich heim!“ Ich wollte meine Mutter veräppeln. Bei ihr funktionierte es immer besonders gut. So konnte ich meine miese Laune aufhellen.
„Okay. Ich lege noch Dina rein“, erklärte Kim, nachdem ich mich von ihr verabschiedet hatte.
„Mach nur. Das ist mir egal“, behauptete ich. Natürlich war es mir nicht egal. Ich wollte Dina vorwarnen und gemeinsam mit ihr Kim auf den Arm nehmen. Es wäre ja noch schöner, wenn Kim uns beide quält.