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Papá

Dina Noche Prudencio

Zwei deiner Figuren, die am unwahrscheinlichsten aufeinandertreffen würden, begegnen sich durch Zufall beim Abendessen.

„Dina, du kannst dann Feierabend machen“, meinte mein Chef, als ich gerade ein Ehepaar abkassiert und zur Tür begleitet hatte.

Heute war nicht viel los im Fliegenden Drachen, dem Ettlinger Lokal, das mitten in der Innenstadt stand.

„Vielen Dank“, freute ich mich. „Aber ich glaube, ich esse hier zu Abend. Ich habe großen Hunger und schaffe es wahrscheinlich nicht bis nach Hause. Außerdem ist Mamá gerade nicht daheim. Auf kochen habe ich gerade keine Lust.“

„Kein Problem, Dina. Das Essen geht natürlich aufs Haus. Such dir etwas Schönes aus. Ich bringe es dir sofort.“

Ich nahm an einem der leeren Tische weiter vorne an der Theke Platz, denn ich hatte immer gerne alles im Blick, auch wenn ich nicht gerade arbeitete.

Keine fünf Minuten später kam schon mein Chef und brachte eines meiner Lieblingsessen, worauf ich mich schon freute. Diesmal hatte ich mir das Pfifferling-Menü bestellt. Ich liebte Pfifferlinge.

Während ich genussvoll aß, nahm ich aus dem Augenwinkel wahr, wie ein weiterer Gast das Lokal betrat. Neugierig hob ich den Blick. Fast hätte ich wieder weggesehen, doch wer da am Empfang stand, ließ mich erstarren. Dort stand wahrhaftig mein – Vater. Wann hatte ich ihn zuletzt gesehen? Das war schon viele Monate wieder her. Papá hielt es nämlich nie lange an einem Ort. Er war überall und nirgendwo zuhause. Die Welt war sein Zuhause, die Bevölkerung jeglicher Kulturen seine Familie. Überall fühlte er sich wohl, doch nirgends hielt es ihn lange. Noch nie hatte sich Carlos länger als ein paar Wochen niedergelassen. Immer zog es ihn hinaus ins Unbekannte. So hatte ich ihn auch nie lange bei mir, wenn er wieder einmal auftauchte.

Doch nun stand er tatsächlich vor mir. Er hatte mich noch nicht bemerkt. Aufgeregt und voller Freude stand ich auf und trat näher an ihn heran. Gerade wollte einer meiner Kollegen ihn an einen freien Tisch bringen, da gab ich ihm ein Zeichen, dass ich übernahm.

„Guten Tag, bitte folgen Sie mir“, begrüßte ich Papá.

„Guten Tag“, sagte er abwesend. Er schien mich nicht zu erkennen. Papá schien in Gedanken versunken zu sein, denn er bekam nicht mit, dass ich vor ihm stand.

„Sie sehen nachdenklich aus“, hakte ich vorsichtig nach.

„Was?“ Er blickte kurz auf, erkannte mich noch immer noch nicht, dann ließ er seinen Blick schweifen. „Ja … ja, ich bin nachdenklich. Ich denke an meine Tochter. Ich vermisse sie so sehr. Ich wollte sie überraschen. Sie arbeitet hier. Sagen Sie, ist Dina noch hier?“

„Einen Moment“, meinte ich, „ich muss kurz nachsehen.“ Provokativ stellte ich mich vor den Spiegel, der im Eingangsbereich hing und guckte hinein. Dann winkte ich mir. „Sie haben Glück, Dina ist noch da. Sie steht direkt vor Ihnen.“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und blickte meinem Vater direkt in die Augen. „Papá, ich stehe direkt vor dir!“

Da schien ein Schleier von ihm zu fallen und sein nachdenkliches Gesicht wechselte schlagartig zu einem breiten Grinsen. Voller Freude streckte er seine Arme aus und drückte mich fest an sich.

„Dina, mein Prinzesschen!“, schluchzte er. „Wie schön, dich zu sehen. Und wie peinlich, dass ich dich nicht erkannt habe. Ich war so in Gedanken an … meine Tochter … an dich, dass ich dich gar nicht erkannt habe.“

Wir guckten uns einander an, dann fingen wir beide an zu lachen.

„Komm, setz dich doch zu mir. Ich esse gerade. Willst du auch etwas?“, bot ich an.

„Sehr gerne, danke. Ich nehme das gleiche wie du“, bestellte er.

„Bist du dir sicher?“, wunderte ich mich. „Du magst doch gar keine Pilze.“

„Pfui! Nein! Wieso sollte ich diese schlabbrigen Dinger mögen? Kleine Schwämmchen in Form von Schlumpf-Häusern. Nein, danke. So etwas esse ich nicht!“ Er schüttelte sich. Dann erkannte er, was ich da aß.

„Das sind Pfifferlinge“, erklärte ich ihm lachend. „Darum habe ich gefragt.“

„Puh, ein Glück! Danke. Ich bestelle dann einfach einen Salat.“

„Eine gute Wahl“, bestätigte ich und gab seine Bestellung direkt in die Küche weiter. „Dein Essen kommt sofort.“

„Super!“, freute er sich. „Dann erzähl doch mal: Was gibt es Neues?“

„Was es bei mir Neues gibt?“ Ich lachte verdattert auf. „Als ob ich dir viel zu erzählen hätte. Ich habe täglich Gäste, die alle hungrig hierher kommen. Sicher hast du wesentlich mehr zu erzählen, wenn du von deiner Weltreise zurückkommst.“

„Du hast recht, Dina.“ Papá strahlte übers ganze Gesicht. „Ich wollte nur höflich sein, dass du zuerst erzählen darfst. Ich habe tatsächlich so einiges erlebt, das ich dir alles erzählen möchte.“

„So, Ihr Salat“, sagte der Kellner und stellte Papá einen großen Salat hin.

„Köstlich“, kommentierte er und begann sogleich zu essen. Kauend kratzte er sich am Bart, ehe er schluckte und zu erzählen begann.

Voller Neugier hörte ich ihm zu, wie er über seine spannende Reise erzählte, auf der er so Einiges erlebt hatte. Papá hatte bereits fast die gesamte Welt bereist. Europa kannte er inzwischen wie seine Westentasche. Er berichtete von den unterschiedlichsten Ländern, als sei es nur ein Tagesausflug in den Nachbarort gewesen. Für ihn zählten vor allem die Begegnungen mit anderen Kulturen und Menschen. Aus materiellen Dingen machte er sich nicht viel. Daher besaß er auch nicht viele Souvenirs, obwohl er schon so viele Dinge hätte mitnehmen können. Manchmal machte er eine Ausnahme, wenn es etwas ganz Besonderes war: ein Giftzahn der Schwarzen Python, eine Eierschale eines Pfaus oder der Gallenstein eines Krokodils. Nur solche Dinge sammelte er. Gewöhnliche Gegenstände, die allen Touristen angedreht wurden, rührte er nicht einmal mit dem kleinen Finger an. Meist machte er viele Fotos, die er dann auf seinem Instagram-Account teilte, wo er seine Fans mit auf die spannende Weltreise nahm. Auch mich, denn so hatte ich zumindest die Möglichkeit, ihn ab und zu zu sehen und indirekt in seiner Nähe zu sein.

„Und so“, schloss er seine Erzählung ab, „bin ich wieder hier gelandet und dachte mir, dass ich meine liebste Tochter wieder einmal besuchen muss, ehe mich die Sehnsucht auffrisst.“

„Du kannst gerne länger hierbleiben“, meinte ich hoffnungsvoll, doch ich wusste, wie seine Antwort darauf lautete. Ich hatte sie schon so oft gehört.

„Tut mir leid. Das Fernweh zieht mich immer zurück ins Ungewisse. Nur, wenn ich reise, fühle ich mich richtig wohl. Ich kann einfach nie lange an demselben Ort bleiben.“

„Ja“, sagte ich traurig, „ich weiß.“ Schwer atmete ich aus, doch es half alles nichts. Spätestens in ein paar Tagen würde er schon wieder verschwunden sein. Auf dem Weg ins Unbekannte, ganz ohne Ziel.

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