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The view from the torture pole

Kim Posse

Eine deiner Figuren findet sich am Marterpfahl wieder. Wie ist sie dahin geraten und wie geht das Ganze aus?

„Komm, hol das Lasso raus, wir spielen Cowboy und Indianer“, sang Dina lauthals, während wir einen Pfad entlangliefen, der Indianerpfad hieß.

„Wir reiten um die Wette, ohne Rast und ohne Ziel“, stieg Vera mit ein.

„Ach“, wunderte ich mich, „ist das wirklich ein Lied? Ich dachte, du hast es dir nur ausgedacht.“

„Nein, das ist wirklich ein Lied. In meiner Kindheit habe ich es geliebt. Jeden Fasching habe ich dazu getanzt“, erinnerte sich Dina.

„Und wie geht es weiter?“, wollte ich wissen.

„Hast du mich umzingelt, werd ich mich ergeben, stellt mich an den Marterpfahl“, sangen Dina und Vera gemeinsam weiter.

„An den Marterpfahl? Das ist aber derb!“

„Da wirst du früher oder später auch noch landen, meine Liebe“, lachte Vera und knuffte mich in die Seite. „So viel Mist, den du den ganzen Tag so von dir gibst …“

„Mist? Was soll das denn heißen?“, empörte ich mich.

„Oh, Kim, du bist ganz braun verschmiert um den Mund“, teilte mir Dina mit, doch als ich mit dem Ärmel darüberwischte, war er sauber. „Braun vom Schreißdreck babbeln“,gab sie lachend von sich.

„Ach, du bist doch blöd!“, beschwerte ich mich.

„So, genug gestritten“, fand Vera, „wir haben unser Ziel gleich erreicht. Die Tipis sind schon zu sehen. Auch der Marterpfahl steht schon.“

„Ausgezeichnet!“ Dina legte noch einen Zahn zu. Sie schien es kaum erwarten zu können, die spitzen Indianerzelte zu erreichen.

Das Indianerdorf, das nun vor uns lag, war ein unglaublicher Anblick. Von einer kleinen Anhöhe aus konnte man in ein weites Tal blicken, das von Flüssen durchzogen war, um die weidenden Tiere zu tränken. Es war das reinste Paradies.

„Wie wunderschön das ist“, schwärmte ich.

Die Indianer rings um die Zelte gingen ihren gewöhnlichen Beschäftigungen nach: Körbe flechten, Pfeile schärfen, Essen kochen und vieles mehr. Obwohl alles nur gestellt war, wirkte es so realistisch, als sei es ein wirkliches Sioux-Zeltlager aus einer anderen Zeit. Ich konnte mir mehr denn je vorstellen, eine von ihnen zu sein.

In diesem Moment spürte ich, wie jemand meine Hände auf meinen Rücken drehte und ein raues Tau um sie band.

„He, was soll das?“, kreischte ich erschrocken. Als ich herumfuhr und Dina erkannte, ließ meine Anspannung etwas nach, doch aufgebracht war ich dennoch. „Was soll das?“, wiederholte ich erbost.

„Ich binde dich fest.“

„Das sehe ich selbst! Aber wieso?“

„Willst du eine bessere Aussicht genießen? Das Tal ist so viel sehenswerter als nur für einen Blick“, meinte Dina.

„Sehr gerne. Ich kann mich von diesem unglaublichen Anblick kaum losreißen. Aber wieso muss ich dazu gefesselt sein?“, erkundigte ich mich.

„Du redest zu viel!“, gab Dina trocken zu bedenken. „Aber meinetwegen: Ich binde dich an den Marterpfahl. Das ist gewissermaßen der Aussichtsturm der Sioux.“

„Ah, sag das doch gleich und jage mir nicht erst so einen Schrecken ein!“ Erleichtert ließ ich mich dorthin führen, was Dina den Marterpfahl nannte. Anders als ich erwartet hatte, war es ein kunstvoll bemalter Baumstamm, dessen Spitze in einem kunstvoll geschnitzten Tierkopf endete und an den Seiten ragten buntbemalte Flügel heraus.

„Da muss ich hoch?“, stutzte ich.

„Du willst doch eine gute Aussicht“, erinnerte mich Dina und schob mich auffordernd in die Richtung des Stammes.

Als ich direkt davor stand, erkannte ich, was für ein gewaltiger Stamm es doch war. Er musste an die vier Meter hoch sein.

Ein Mann mit gefiedertem Kopfschmuck tauchte auf und hob mich mit Leichtigkeit in die Höhe. Ein weiterer Mann mit deutlich kleinerem Schmuck befestigte mich am Pfahl.

„Und, gefällt dir die Aussicht?“, wollte Dina wissen.

„Sie ist unglaublich!“, stieß ich aus. Ich ließ meinen Blick über die Weiten der grünen Landschaft gleiten und genoss den atemberaubenden Ausblick.

„Das freut mich.“ Dina machte kehrt und lief davon.

„He, warte!“, rief ich ihr hinterher. „Wie komme ich hier wieder herunter?“

„Erstmal gar nicht. So haben wir für einen Moment endlich die lang ersehnte Ruhe“, gab sie lachend zu.

„Ihr habt das alles geplant?“, stutzte ich und spürte, wie die Wut darüber in mir zu brodeln begann.

„Was glaubst du denn?“

„Das glaube ich jetzt nicht! Hol mich auf der Stelle wieder herunter!“

„Zetere nicht so herum! Genieße lieber den Ausblick! Er wird dir noch lange in Erinnerung bleiben. Ich tanze jetzt erst einmal mit den Sioux um das Lagerfeuer. Bis später!“

„Das kann nicht dein Erst sein!“, schrie ich erbost, doch genau das war es. Dina lief ohne ein weiteres Wort davon und überließ mich meinen Schicksal. Schöne Aussicht hin oder her, ich wollte nun wirklich wieder herunter.

„Hiiiilfeeee, ich will ruuuuunteeeer“, brüllte ich, doch niemand schien mich zu hören. „Na danke auch! Was für eine beschissene Situation! So etwas kann auch nur mir passieren!“ Stumm flehte ich darum, dass mich irgendjemand von diesem bescheuerten Pfahl befreien kam, doch mein Flehen hörte niemand.

„Nicht einmal einen Regentanz kann ich machen! Ich habe Durst!“, zeterte ich nach einer Weile des stummen Frusts weiter.

„Pst, du erzürnst die Götter“, mahnte mich ein Mann, der über und über mit Knochen bedeckt war. Ein Tierfell hing über seinen Schultern.

„Wer bist du denn?“

„Ich bin der Medizinmann des Stammes. Nur allein die Götter vermögen es, über dein Schicksal zu entscheiden.“

„Das sind nicht meine Götter“, fauchte ich, „hole mich auf der Stelle herunter!“

„Tut mir leid, das liegt nicht in meiner Macht. Der Marterpfahl hat sein Tribut gewählt und er scheint dich auserkoren zu haben.“

„Na herzlichen Dank auch! Und was soll ich mit dieser Ehre nun anfangen? Soll ich ein Lied darüber singen?“

„Gib Ruhe, aufgebrachter Geist, deine Zeit der Gerechtigkeit wird kommen. Die Götter werden über dich wachen.“

„Wie überaus großzügig von deinen Göttern!“

Doch da war der Medizinmann auch schon wieder verschwunden.

Wieso musste ausgerechnet mir immer so eine Scheiße passieren? Wie konnte ich nur so dumm sein? „Genießt die Ruhe vor dem Sturm, denn sobald ich wieder auf dem Boden bin, bin ich eure persönliche Katastrophe!“, brüllte ich, doch niemand schenkte mir Beachtung.

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