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Zurück in die Vergangenheit

Vera Sturm

Deine Lieblingsfigur kann zu einem Ereignis aus der Kindheit reisen, um dieses zu verändern ... oder auch nicht.

„Ihr glaubt wirklich, dass das funktioniert?“ Skeptisch begutachtete ich die Maschine, die der spanische Professor Jorge Sapiencia Vázquez entwickelt hatte. Diese sollte es ermöglichen, in die Vergangenheit zu reisen und ein bereits geschehenes Ereignis noch einmal wie einen Film anzuschauen.

„Ich bin fest davon überzeugt“, meinte Dina, „schließlich hat es der Professor gebaut. Er kann alles.“

„Vielen Dank, ich werde glatt rot bei diesem Lob.“ Der Professor grinste verlegen. „Aber nun wollen wir meine Maschine erst einmal ausprobieren. Wer will den Anfang machen?“

„Ich lasse euch den Vortritt“, sagte Kim schnell. Ihr schien die neue Erfindung nicht geheuer zu sein.

„Was soll schon passieren?“, fand Dina. „Wenn sich keine von euch traut, mache ich eben den Anfang. Aber nur, wenn ihr auch wirklich nach mir die Maschine ausprobiert. Ich will nicht die einzige sein.“

„Ich mache es nach dir, versprochen“, versicherte ich, obwohl ich diesem Apparat ebenso wenig traute wie Kim es tat.

„Nun gut“, ergriff Sapiencia das Wort. Er fuhr die Apparatur hoch und sämtliche Lichter begannen zu blinken. Es hatte etwas Mystisches. Die Erfindung sah aus wie ein übergroßer Sessel, um den eine Glaskugel gebaut worden war. Eine kleine Tür an der Seite ermöglichte den Einstieg.

„Sobald du platz genommen hast, schließt du die Augen und drückst den roten Knopf an der Seite des Sessels. Dadurch wird die synaptische Übertragung deiner Hirnströme aktiviert und die Maschine greift auf deine Erinnerungen zurück. Keine Angst, du wirst nichts davon spüren und es ist vollkommen ungefährlich“, versuchte er uns die Angst zu nehmen.

„Hoffen wir es“, fand Dina.

„Woher soll man wissen, welcher der rote Knopf ist, wenn man die Augen geschlossen hat?“, wollte Kim wissen.

„Es gibt nur diesen einen Knopf auf der linken Seite“, informierte der Professor sie. „Du kannst dich gar nicht verdrücken.“

„Und ob sie das kann. Bestimmt entdeckt sie noch einen Knopf, den Sie gar nicht eingebaut haben, Professor“, frotzelte ich Kim.

„Sei nicht so gemein! Ich bin nicht so dumm wie ich aussehe!“, empörte sie sich.

„Nun gut, lasst uns beginnen“, lenkte der Professor belustigt zurück auf seine Erfindung. „Dina, schließe bitte die Augen – das ist sehr wichtig – und drücke den Knopf.“

Dina lehnte sich zurück und drückte den Knopf. Die Maschine bebte leise und die Lichter begannen hektisch zu blinken. Freudestrahlend sah ihr der Professor dabei zu. Keine zehn Sekunden später richtete sich Dina bereits wieder auf und der Spuk war vorbei.

„Das war‘s schon?“, wunderte ich mich.

„In der Maschine kommt es dir vor, als würdest du ein ganzes Leben anschauen, in Wahrheit sind es nur Bruchteile von Sekunden, die verstreichen.“

Dina hatte große Augen, als sie aus der Maschine krabbelte. „Ich kann es kaum glauben. Ich habe meinen Vater gesehen. Wir ließen zusammen Drachen steigen. Das war so schön. Ich habe es noch einmal erlebt wie früher. Professor, Ihre Erfindung ist unglaublich. Darf ich gleich noch einmal einsteigen?“

„Das freut mich. Leider kannst du nur einmal am Tag für wenige Sekunden in deine Vergangenheit abtauchen. Bleibst du länger dort, überlastet es dein Gehirn und du kehrst in dem geistigen Alter zurück, das du in deiner Vision hattest.“

„Das ist ja schrecklich!“, kreischte Dina auf. „Dann wäre ich wieder neun.“

„Darum achte ich so sehr darauf, dass niemand zu lange in der Maschine bleibt. Vera, willst du als Nächstes?“, wandte er sich nun an mich.

„Na gut, irgendwie will ich schon, doch etwas unwohl ist mir schon bei dem Gedanken, in meine Vergangenheit zu reisen“, gestand ich.

„Und das beste ist, dass du aus deinen Augen die Vergangenheit siehst“, sagte Dina begeistert.

„Wenn du dich stark konzentrierst, kannst du sogar aus deinem Vergangenheits-Körper hinaus und das Geschehen von außen beobachten. Das geht. Es erfordert allerdings etwas Übung.“

„Ich will es probieren.“ Entschlossen stieg ich ein, machte es mir auf dem Sessel bequem, schloss die Augen und drückte den roten Knopf … Wie beim Start einer Rakete wurde ich in den Sessel gepresst, alles wurde gleißend hell um mich herum und alles fühlte sich dumpf und unendlich weit weg an. Auf meinen Ohren lag ein Druck, als befände ich mich hundert Meter unter Wasser.

Auf einmal war alles wieder normal. Ich fühlte mich leicht und unbeschwert. Als ich die Augen öffnete und mich umschaute, bemerkte ich, dass ich in meinem Kinderkörper steckte. Kleine Beinchen trugen mich tapsig durch die Welt. Ich gab glucksende Geräusche von mir. Hatte ich wirklich so geklungen? An die Situation konnte ich mich gar nicht erinnern. War das wirklich meine Vergangenheit? Meine Mutter rief mich zum Tisch. Mein Kleinkinder-Ich rannte schwankend ins Esszimmer. Um den Tisch, der mir viel höher vorkam, saßen meine Verwandten und strahlten mich an.

„Vera, mein kleiner Wonneproppen“, rief ein Mann und nahm mich auf den Arm. Er musste mein Opa sein, bloß viel, viel jünger.

Ein Bellen ließ mich herumfahren.

„Ach, dieser blöde Köter“, schimpfte eine uralte Frau, die beim Fasching ohne Maske als Hexe mitlaufen könnte. Das musste Großtante Erna sein. An sie konnte ich mich nicht mehr erinnern. Ich kannte sie bloß von Bildern. Meine Mama hatte sie nicht gemocht und die Geschichten über sie waren nie schön gewesen. Sie hasste Tiere und kleine Kinder – also aktuell auch mich.

„Erna, lass den Hund doch bellen“, beschwichtigte Mama sie.

„Furchtbar dieses Vieh. Den Hals sollte man ihm umdrehen“, fauchte sie.

„Du Monster!“, schrie ich unerwartet. „Der Hund kann ebenso wenig dafür, dass er nicht sprechen kann, wie du, dass du so grausam und hässlich bist!“ Hatte ich das wirklich gesagt? Geschockt sah ich zu, wie sich Großtante Erna erbost erhob und auf mich zukam. Bedrohlich kam sie näher, dann griff sie sich unerwartet an den Kopf und kippte vor mir zu Boden – Herzinfarkt!

Großtante Erna war an meinem Geburtstag an einem Herzinfarkt gestorben. Warum hatte ich ausgerechnet diese Szene noch einmal ansehen müssen? Schlimm genug, dass ich es einmal erlebt hatte.

Da wurde mir unerwartet schwummrig. Ich schloss die Augen, da alles unerträglich laut wurde. Als ich die Augen wieder aufschlug, saß ich wieder auf dem Sessel und guckte mit großen Augen meine Freundinnen und den Professor an.

„Was hast du erlebt?“, interessierte sich Kim.

„Ich habe meiner Großtante Erna erneut zugesehen, wie sie an einem Herzinfarkt gestorben ist. Als ob mir dieses Trauma nicht einmal gereicht hätte. Jetzt musste ich es zweimal ansehen!“ Bei diese Vorstellung schauderte es mich. „Wieso ausgerechnet diese Szene. Meine Kindheit war doch so lange.“

„Das tut mir aufrichtig leid, Vera. Die Maschine sucht sich nicht aus, was sie zeigt. Sie durchsucht dein tiefstes Unterbewusstsein. Wahrscheinlich hast du es dort vergraben und vergessen. Das ist wirklich blöd, dass du es noch einmal erleben musstest.“ Betroffen blickte der Professor zu Boden. „Aber hast du Einfluss nehmen können?“, wollte er noch wissen.

„Nicht wirklich“, gestand ich. „Ich war die Kleinkind-Vera und habe nicht beeinflussen können, was ich tat. Ich habe sozusagen aus ihren Augen zugesehen … aus meinen Augen. Das ist echt absurd.“ Ich schüttelte den Kopf, da ich es noch immer nicht ganz glauben konnte. „Aber mich hat geschockt, was ich zu ihr gesagt hatte.“

„Was denn?“, wollte der Professor wissen. „Hast du dich daran erinnert, dass du das schon damals gesagt hast oder hast du in die Vergangenheit eingegriffen und sie verändert?“

„Verändert? Das geht?“ Ein eiskalter Schauder überlief mich. Hieß das, ich hatte Großtante Erna tatsächlich umgebracht? Wie war sie das erste Mal gestorben? Ich wusste es nicht mehr. „Ich glaube“, gestand ich, „ich habe das zum ersten Mal gesagt.“

„Unglaublich“, fand der Professor, „das ist bisher noch niemandem gelungen. Wärst du bereit, morgen erneut in deine Vergangenheit zu reisen – der Wissenschaft zuliebe?“

„Tut mir leid, nicht auf Kosten meiner Vergangenheit. In diese Maschine setze ich keinen Fuß mehr!“, wehrte ich ab.

„Dann bist du an der Reihe, Kim.“

„Oh nein, mich bekommen Sie da nicht hinein! Meine Vergangenheit ist schlimm genug, um sie einmal erleben zu müssen. Ein zweites Mal halte ich nicht durch!“

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